DFG-Netzwerk:
Dynamiken interkultureller Begegnungen

Berichte


Kulturkontakten auf der Spur – Manifestationen der Begegnung, 9.-10. Oktober 2014, Mainz
Vom 9. bis 11. Oktober 2014 fand am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG) in Mainz der Workshop „Kulturkontakten auf der Spur – Manifestationen der Begegnung“ des interdisziplinären DFG-Netzwerks‚ Dynamiken interkultureller Begegnungen‘ statt. Das Konzept der ‚Spur‘ und die Frage nach dessen Mehrwehrt für die kulturwissenschaftliche Forschung standen im Zentrum des Workshops. Anhand zahlreicher Zeugnisse unterschiedlicher Materialität wurden verschiedene Fälle kultureller Begegnungen analysiert, dabei legte die Mehrzahl der Vorträge den Fokus auf ‚asymmetrische‘ Kulturkontakte im Rahmen von Kolonialisierung und Mission. Das breite Spektrum der Materialität einerseits sowie die dem ‚Spurensetzen‘ und ‚Spurenlesen‘ inhärenten Selektions- und Interpretationsprozesse andererseits wurden als Bestandteile des Konzepts ‚Spur‘ wiederholt betont.

Den Auftakt des Workshops bildete der Abendvortrag von TIMO HEIMERDINGER (Innsbruck). Darin beschäftigte er sich mit der Thematik des kulturwissenschaftlichen ‚Spurenlesens‘ als Spekulations- und Deutungsakt. Die kulturwissenschaftliche ‚Spurensuche‘ lasse sich, wie Heimerdinger an einem prägnanten Beispiel (eine Lampe in Form des schiefen Turms von Pisa) anschaulich demonstrierte, zunächst vermeintlich einfach mittels des Indizienparadigmas von Carlo Ginzburg sowie des Zeichenmodells von Charles Sanders Peirce bewerkstelligen.[1] Jedoch seien beide Methoden letztlich ungeeignet, die wechselseitige Beziehung zwischen Mensch und Objekt abzubilden. Das Eindeutigkeit suggerierende Wirkung-Ursache-Verhältnis sei zu statisch und berücksichtige nicht die sich verändernden Verwendungszusammenhänge und Bedeutungen. Heimerdinger plädierte daher unter Bezugnahme auf Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie für ein wissenschaftliches ‚Spurenlesen‘, das die wandelbare Interaktionsbeziehung zwischen Menschen und Dingen berücksichtige, Forschungsergebnisse als Interpretationsakte und Deutungsangebote verstehe und damit letztlich Leerstellen und Mehrdeutigkeit mitdenke.[2] Die politische Aufgabe des Kulturwissenschaftlers liege dabei, so Heimerdinger abschließend, in der „konsequenten Enttäuschung von Forderungen nach Eindeutigkeit“.

Nach der Begrüßung durch den Forschungskoordinator des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte, Joachim Berger, präsentierte EVA SPIES (Bayreuth) kurz die Arbeit des DFG-Netzwerks und umriss den thematischen Schwerpunkt des Workshops. Durch die Erforschung materieller Zeugnisse als ‚Spuren‘ kultureller Kontakte werde das Materielle aufgewertet und in Beziehung zu den (historischen) Akteuren sowie den Forschenden gesetzt. Eine ‚Spur‘ sei das, was kulturelle Begegnungen in materieller Form hinterließen und was damit Wissenschaftlern eben diese Begegnungen zugänglich mache. Spies betonte den Repräsentations- sowie den Konstruktionscharakter der ‚Spur‘. In dem Maße wie Spuren Zeugnis von Kulturkontakten in jeweils spezifischen Kontexten ablegten, sei auch das Spurenlesen selbst bedingt durch den Kontext des ‚Spurenlesers‘, also des Wissenschaftlers, der die Spur erst als eine solche definiere und damit gewissermaßen selbst Teil des Kulturkontakts werde.

In ihrem Vortrag über „Materielle Kultur und Repräsentation der ‚Herrnhuter Delaware‘ in Süd-Ontario, 1792 bis heute“ fragte MENJA HOLTZ (Hannover), welchen Erkenntniswert die Erforschung materieller, nicht textueller Spuren für die traditionell vor allem an Textzeugnissen interessierte Geschichtswissenschaft birgt. Dazu untersuchte sie verschiedene Arten materieller Spuren des Kontakts zwischen indigener Bevölkerung und Herrnhuter Missionaren, die sie thematisch untergliederte in Alltagsspuren, darunter Behausung, Kleidung und Körperbemalung der Delaware-Indianer, bewusst gelegte historisierende Spuren, wie zum Beispiel staatliche Informationstafeln oder das Missionsmuseum, sowie Spuren der Selbstdarstellung und Identitätsbildung, worunter das Wiederaufgreifen alter Rituale und Traditionen fällt. Durch das Hinzuziehen von Textzeugnissen zur Interpretation außertextlicher ‚Relikte‘ wies Menja Holtz einen Weg zu einer sinnvollen und bereichernden interpretativen Verbindung von textuellen und außertextlichen ‚Überlieferungen‘. Das breit gefasste Verständnis der materiellen Spur über das Textuelle hinaus könne helfen, die Art und Weise sowie die Folgen kultureller Begegnungen umfassender nachzuvollziehen.

ANDREAS KÖLLER (Mainz) behandelte in seinem Vortrag anhand des spezifischen Bischofsornats der Church of South India (CSI) einen Versuch der bewussten Spurensetzung und dessen unterschiedliche Deutungen. Die CSI entstand 1947 als Unionskirche aus dem Zusammenschluss episkopal, presbyterianisch und kongregationalistisch organisierter Missionskirchen in Indien. Der Kulturkontakt ist also gewissermaßen gedoppelt: intern durch die Fusion unterschiedlicher Kirchen zur Unionskirche, extern durch die Begegnung von ‚westlich-christlicher‘ und ‚indischer‘ Kultur. Das spezifische Bischofsornat der CSI sollte, so Köller, die erfolgreiche Verschmelzung der Kulturen und damit das Ergebnis eines friedlichen und respektvollen Kulturkontakts zum Ausdruck bringen. Die Schlichtheit der Form sei dabei als Zugeständnis an die nicht-bischöflichen Kirchen zu verstehen, während die Farbgebung als heilige Farbe des Hinduismus das ‚indische‘ Element beinhalte. Das Ornat kann also als Spur einer intendierten und erfolgreichen Kulturverschmelzung angesehen werden. Jedoch weist die Kritik an einer ‚leeren Symbolik‘, die Kulturkonflikte vertusche statt sie zu lösen, in eine ganz andere Deutungsrichtung. Eine dritte Interpretationslinie lässt allein in den Bemühungen um das Ornat Spuren der Entwicklung eines hybriden Charakters der CSI sowie der Flexibilität als Kernbestandteil der CSI-Identität erkennen. Die Bewertung materieller Spuren, so Köller abschließend, sage also stets auch etwas über den Bewertenden aus, der einerseits eine Spur erst als eine solche wahrnehme sowie andererseits deren Deutung in eine bestimmte Richtung lenke. Verschiedene Interpretationen könnten dabei nebeneinander bestehen, sich gegenseitig bereichern und irritieren und damit zu einer fruchtbaren Hinterfragung der eigenen wissenschaftlichen Herangehensweise führen.

In ihrem Vortrag untersuchte KATHARINA STORNIG (Mainz) Wirkung und Funktion von Fotografien, insbesondere Kinderfotografien, bei der Spendenakquise durch Missionen in Afrika und Asien seit dem späten 19. Jahrhundert. Vom Betrachter als authentisch wahrgenommene Abbildungen von scheinbar hilfsbedürftigen Kindern dienten der Personalisierung und Individualisierung materieller Hilfeleistungen. Über eine geografische Distanz hinweg konnte durch Fotografien ein persönlicher Kontakt zwischen dem (potentiellen) Spender und dem Spendenempfänger suggeriert und somit das Spendenverhalten beeinflusst werden. Die besondere Materialität der Fotografie als greifbares Objekt, das einfach zu reproduzieren und damit leicht zu verbreiten ist, sowie als authentisch wahrgenommenes Abbild der Realität, ist dabei von Bedeutung für ihre Verbreitung und ihre Wirkung beim Betrachter. Als ‚authentisch‘ galt nicht nur die auf den Fotos präsentierte Hilfsbedürftigkeit der Kinder, sondern auch die fotografisch festgehaltenen ‚Erfolge‘, z.B. in Form von verbesserten Lebensumständen durch die Arbeit der Mission und die finanzielle Hilfe der Spender. Missionsfotografien seien letztlich, so Stornig, im mehrfachen Sinn als ‚Spur‘ kultureller Kontakte anzusehen, da sie zum einen Abbilder von Begegnungen sowie zum anderen selbst Teil einer Begegnung sind. Das Deutungsraster für diese Begegnungen wird dabei durch die Mission als Mittlerin vorgegeben, die Abgebildeten haben also keinen Einfluss auf die Rezeption ihrer fotografischen Repräsentationen. Stornigs Vortrag zeigte, dass ‚Spurenlesen‘ auch als ‚Authentifizierungsverfahren‘ verstanden werden kann. Nicht nur die Forschenden, sondern auch die Akteure selbst verlangen nach ‚Echtheit‘ und werden in ihren Deutungen oftmals vom Wunsch nach indexikalischer Repräsentation geleitet.

ESTHER MÖLLER (Mainz) wandte sich schließlich in ihrem Vortrag einer textuellen Form der Spur kultureller Kontakte zu, indem sie Protokolle der arabischen Rotkreuz- und Rothalbmondkonferenzen der 1960er- und 1970er-Jahre untersuchte. Dabei fragte sie zunächst nach der Rolle verschiedener Akteure – Protokollanten und Übersetzer – und deren kultureller und sprachlicher Hintergründe bei der spezifischen Ausformung der Protokolle. Anschließend zeigte Möller die sprachlichen und inhaltlichen Spezifika der Protokolle auf, an denen sich Position und Einfluss der teilnehmenden Länder aufzeigen ließen. Durch die Gegenüberstellung der Konferenzprotokolle mit öffentlichen Informationsmedien, wie zum Beispiel dem International Red Cross Review, traten inhaltliche Unterschiede und variierte Schwerpunktsetzungen deutlich zutage. Gerade in der Kontrastierung mit anderen Informationsquellen zeige sich, so Möller, dass die Konferenzprotokolle als Spuren von Entscheidungsprozessen, an denen Repräsentanten verschiedener Kulturen mit sprachlichen, historischen und politischen Unterschieden beteiligt waren, Aufschluss über die Art eben jener Kulturbegegnungen geben können.

Der letzte Vortrag von FRANZISKA TORMA (Augsburg) beschäftigte sich mit unterschiedlichen Überlieferungskulturen sowie deren möglichem Ertrag und auch der ihnen inhärenten Problematik für das kulturwissenschaftliche ‚Spurenlesen‘. Anhand des Beispiels eigener Rechercheerlebnisse im Naturkundemuseum in Berlin zum Nachlass des Zoologieprofessors Friedrich Dahl, der Ende des 19. Jahrhundert das Ökosystem des Bismarck-Archipel wissenschaftlich zu erfassen suchte, wurde die Verschiedenheit natur- und kulturwissenschaftlicher ‚Spurensicherung‘ deutlich: Während es bei ersterer vor allem um die Sammlung und Erfassung biologischer Proben gehe, man also gewissermaßen von diesem Sammlungstyp als „Archiv der Natur“ sprechen könne, liege bei letzterer der Fokus auf der Archivierung textueller Zeugnisse. Dabei, so zeigte Torma eindrücklich, könnten sowohl textuelle als auch biologische Objekte europäischer ‚Sammelwut‘ im Zuge der Kolonialisierung als Teile eines ‚Referenznetzwerks‘ verstanden und damit als sich gegenseitig erklärende und ergänzende Spuren des Kulturkontakts zwischen Kolonialisierenden und Kolonialisierten gedeutet werden. Die Grenze zwischen Natur und Kultur verschwimme mit der Hinwendung zum Konzept der ‚Spur‘ als materielles Zeugnis vergangenen Lebens. Das Sammeln von Objekten beinhalte, so Torma, stets auch Selektionsvorgänge und Deutungsverschiebungen, sodass die Prozesse historiografischer Überlieferung als Prozesse einer sedimentären Vermittlung verstanden werden müssen. Die wissenschaftliche Erforschung materieller Spuren sei also zwangsläufig von mehrschichtigen Selektions- und Interpretationsvorgängen geprägt.

Die abschließende Diskussion setzte sich vor allem mit dem Konzept der ‚Spur‘ und dessen Mehrwehrt für die Forschung auseinander. In definitorischer Hinsicht wurde unter anderem auf die Berücksichtigung unterschiedlicher Verwendungsweisen des Begriffs ‚Spur‘ hingewiesen, der einerseits als sichtbares Ergebnis einer Handlung (Bsp. Einbruchspuren am Fenster) sowie andererseits als Weg zu etwas (Bsp. Fußspuren, die zum Einbrecher führen) verstanden werden kann. Diese mehrfache Bedeutung verwies schließlich auch auf den wissenschaftlichen Mehrwehrt des Konzepts der ‚Spur‘ und des ihm inhärenten Beziehungsaspekts. Mit der ‚Spur‘ als Relationsgefüge zwischen Forschendem, Objekt und Akteur werde eine Dimension semantisch gefasst, die durch den herkömmlichen Begriff ‚Quelle‘ so nicht abgedeckt sei. Damit würden schließlich subjektive Selektion und Interpretation als elementare Bestandteile des ‚Spurenlegens‘ einerseits sowie des (wissenschaftlichen) ‚Spurensuchens‘ und ‚Spurenlesens‘ andererseits anerkannt und dadurch Mehrdeutigkeit und überlieferungsbedingte Leerstellen mitgedacht. Zudem diene das Konzept dazu, verschiedene Arten der Überlieferung begrifflich zu fassen.

Insgesamt ist es dem Workshop gelungen, anhand des Konzepts der ‚materiellen Spur‘ die wissenschaftliche Erforschung kultureller Begegnungen breiter anzulegen. Vor allem das Hinzuziehen nicht textueller Überlieferungen erwies sich als bereichernd. Der Begriff der ‚Spur‘ schien dabei nicht nur zur konzeptuellen Verbindung textueller und nicht-textueller Hinterlassenschaften vergangenen Lebens sinnvoll, sondern diente damit gleichsam, wie die unterschiedlichen Vortragsthemen zeigten, der Schärfung des wissenschaftlichen Bewusstseins für zunächst ungewohnte Überlieferungsformen. Das Bewusstmachen mehrschichtiger Selektions- und Interpretationsakte sowie das Berücksichtigen von Mehrdeutigkeit und Leerstellen ist dem wissenschaftlichen Arbeiten nicht neu, allerdings scheint das Konzept der ‚Spur‘ stärker als der herkömmliche Quellenbegriff auf diese selektiven und wandelbaren Prozesse im Sinne von ‚Spurenlegen‘ und ‚Spurenlesen‘ hinzuweisen. Die breite Verwendungsweise des recht schillernden Begriffs ‚Spur‘ erwies sich im Rahmen des Workshops zwar als inspirierend, ob das Konzept aber mehr als ein bloßer ‚Denkanstoß‘ ist und der wissenschaftlichen Praxis als greifbares Instrumentarium dienen kann, wäre durch weitere begriffliche Konkretisierungen sowie durch praktische Anwendung zu prüfen.

Konferenzübersicht:

Timo Heimerdinger (Innsbruck), Zwischen Spur und Spekulation – Grundprobleme der interpretativen Kulturwissenschaft

Joachim Berger (Mainz) / Eva Spies (Bayreuth), Begrüßung und Einführung

Menja Holtz (Hannover), Materielle Kultur und Repräsentation der „Herrnhuter Delaware“ in Süd-Ontario, 1792 bis heute

Andreas Köller (Mainz), Presbyterianische Bischöfe in Safran-Orange: Das Ornat der Bischöfe der Church of South India als Aushandlungsort kultureller und denominationeller Vielfältigkeit

Katharina Stornig (Mainz), Authentifizierung kultureller Begegnungen durch Fotografie?

Esther Möller (Mainz), Protokolle als Spuren interkultureller Begegnungen. Das Beispiel der arabischen Rotkreuz- und Rothalbmondkonferenzen in den 1960er- und 1970er-Jahren

Franziska Torma (Augsburg), Vergangene Leben lesen. Denken an der Grenze von Natur und Kultur

Abschlussdiskussion

Anmerkungen:
[1] Carlo Ginzburg, Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, Berlin 2011; Charles Sanders Peirce, Writings of Charles S. Peirce: A chronological Edition, Bd. 2: 1867-1871, Bloomington u.a. 1984; vgl. hierzu auch Umberto Eco, Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, 2. korr. Aufl., München 1991 (1. dt. Aufl. 1987).
[2] Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Berlin 2010.

Tagungsbericht: Kulturkontakten auf der Spur – Manifestationen der Begegnung
09.10.2014 – 11.10.2014 Mainz
in: H-Soz-Kult, 15.11.2014

Text: Sara Mehlmer (Leibniz-Institut für Europäische Geschichte Mainz)




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