DFG-Netzwerk:
Dynamiken interkultureller Begegnungen

Berichte

Prozesse und Perspektivität des (Nicht-)Verstehens im Kulturkontakt, 16.-17. Juli 2015, Kiel
In Abgrenzung zur klassischen Hermeneutik tendieren aktuelle geisteswissenschaftliche Forschungen dazu, das Nichtverstehen im Kulturkontakt nicht notwendigerweise als Defizit, sondern als eine eigene Interpretationskategorie aufzufassen. Wie sich anhand interkultureller Begegnungen gewohnte Verstehensweisen in Frage stellen lassen und wo sich unter diesem Gesichtspunkt neue Perspektiven eröffnen, zeigten die interdisziplinären Beiträge zum Workshop „Prozesse und Perspektivität des (Nicht-)Verstehens im Kulturkontakt“, den das DFG-Netzwerk „Dynamiken interkultureller Begegnungen“ am 16. und 17. Juli 2015 an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel veranstaltete.

DIRK WESTERKAMP (Kiel) eröffnete den Workshop mit einigen Erläuterungen zur Anoetik, einer „phänomenologischen Analytik des Nichtverstehens“. Seinen Ausführungen lag die Annahme zugrunde, dass Diltheys Dichotomie der Kategorien „Erklären“ und „Verstehen“ die Wissenschaftswirklichkeit des 20. und 21. Jahrhunderts verfehle. Stattdessen müsse das Begriffspaar neu konturiert und nicht nur auf die Wissenschaft, sondern auch auf den eigenen Erkenntnismodus und Reflexionsbegriff ausgeweitet werden. Der inferentielle Charakter von Sprache ermögliche dabei, dass Sinnkontexte hergestellt würden und so zwischen Verstehen und Nichtverstehen auch ein Teilverstehen möglich sei. Als Herzstück seiner Erläuterungen präsentierte Westerkamp eine anoetische Kategorientafel, die die Formen und Leistungen verschiedener Nichtverstehensprozesse systematisiert und das Erklären als reflexiven Prozess darstellt.

Anschließend gab MARTIN LANGNER (Krakau) einen Einblick in den Kulturkontakt aus mediävistischer Perspektive. Grundlage seiner Untersuchungen war die Darstellung kriegerischer Handlungen in epischen und lyrischen Texten aus dem Dietrich-Sagenkreis, in denen „polnische Ritter“ auftreten. Diese Ritter seien zum einen als fremd, zum anderen aber auch als dem Hochadel angehörige, ebenbürtige Gegner im Kampf markiert. Anhand dieser Beschreibungen grenzte Langner Stereotype und sprachliche Bilder als Mittel zur Beschreibung des Fremden ab: während Stereotype vorgeprägte Muster bedienten und damit nicht auf das Verstehen ausgelegt seien, setzten sprachliche Bilder etwas Abwesendes als etwas Existierendes und generierten somit die Möglichkeit, das Fremde zu illustrieren und so das eigene Nichtverstehen sprachlich zu verarbeiten. Im Gegensatz zu Stereotypen seien sprachliche Bilder vorwiegend deskriptiv. Weil sie dadurch das Nichtverstehen überbrückten, seien sie als Strategie unmittelbar vor dem Verstehen zu betrachten.

Der zweite Tag des Workshops begann mit einer kunsthistorisch grundierten Erörterung „geteilter Vorstellungen“ des östlichen Mittelmeerraums in der venezianischen Malerei des 15. und 16. Jahrhunderts von NICOLAI KÖLMEL (Basel). In zahlreichen Werken dieser Zeit ist zu beobachten, dass Vorstellungen und Artefakte aus der osmanischen Kultur gar nicht als andersartig markiert seien, sondern als „vertraute Fremde“ teilweise umgedeutet oder überformt in die eigenen Vorstellungen aufgenommen würden. Der Referent bezeichnete dieses absichtsvolle Nichtverstehen als „anverwandeln“, also eine Form der kulturellen Aneignung. In diesem Vortrag diente Max Webers Definition des Verstehens als sinnhaftes Deuten als begriffliche Grundlage, das sich aus der Wahrnehmung einer Differenz, Bereitschaft zum Perspektivwechsel und einer Identifizierung der Handlungsgründe des Gegenübers konstituiert. Anhand von Gentile Bellinis „Markuspredigt in Alexandria“ zeigte Kölmel, wie levantinische Kleidung und Alltagsgegenstände im Gemälde aufgegriffen werden, ohne ein tatsächliches Verstehen dieser Kultur zu generieren, sondern vielmehr Wissensbestände über das Fremde in – heute weitgehend verlorenen – Archiven zu sammeln: Realienkunde allein schaffe noch kein Verstehen. Der Gründungsmythos Venedigs wird so als Anverwandlung Alexandrias in der italienischen Handelsmetropole dargestellt.

Dass das Nichtverstehen auch einen inhaltlichen Eigenwert bekommen kann, zeigte der Blick protestantischer Missionare des 18. Jahrhunderts auf das Nichtverstehen, den SABINE HÜBNER (Oldenburg) in ihrem Beitrag offen legte. Als Quelle dienten hier Zeitschriften über die Dänisch-Englisch-Hallesche Mission in Südostindien. In ihnen sind detailliert protokollierte Gespräche zwischen Missionaren und Indigenen abgedruckt, die unter hohem Erwartungsdruck standen, die Missionen gegenüber Geldgebern und Heimatgemeinden rechtfertigen und den Missionseifer selbst und gerade bei erfolglosen Missionsgesprächen dokumentieren sollten. Die Dialoge brechen überraschenderweise meist unvermittelt ab. Dadurch entsteht eine Unschärfe in der Berichterstattung, da z.B. die Reaktion der Missionierten in den Quellen nicht vorhanden ist und so das religiöse Leben der Bekehrten vom (europäischen) Leser nicht nachvollzogen werden kann. Dies führte zu Kontroversen zwischen den Missionaren und den Herausgebern von Missionszeitschriften über die angemessene Wiedergabe von missionarischen Gesprächssituationen. Allerdings zeigt sich in dieser kommunikativen Grenzsituation auch das Potenzial des Nichtverstehens: es deckt Irritationen im Kulturkontakt auf und zeigt, dass das gesprochene Wort die ‚Wirklichkeit der Welt‘ und auch das religiöse Erleben nie vollständig erfassen kann.

Nichtverstehen kann ebenfalls ein bewusster Akt der interkulturellen Kommunikation sein – dies zeigte der Vortrag von ANNE MARISS (Tübingen), in dem sie anhand des während der zweiten Cook-Reise (1772-1775) geführten Bordtagebuchs des Naturforschers Johann Reinhold Forster Prozesse der naturkundlichen Wissensproduktion untersuchte. Dabei stellte sich heraus, dass es zwischen dem Forschungsreisenden und den Indigenen trotz erworbener Sprachkenntnisse oft zu Missverständnissen kam, die der Wissensproduktion im Wege standen. So wurden seitens der Indigenen oft Falschinformationen weitergegeben, die z.B. verhinderten, dass Europäer zu den Heiligtümern vordringen konnten. Während Forster dies häufig als „Dummheit“ oder „Böswilligkeit“ missdeutete, kann das Nichtverstehen der Indigenen als bewusster Akt im Rahmen ihrer kulturellen Agenda verstanden werden. So wird auch das Narrativ von „überlegenen“ Europäern und „machtlosen“ Indigenen in Frage gestellt.

FABIAN FECHNER (Tübingen) fragte danach, wie Nichtverstehen in Quellen überhaupt lesbar wird. Anhand von frühneuzeitlichen Missionarsberichten stellte er eine Typologie der Unzuverlässigkeit auf und ordnete Nichtverstehenssituationen in drei Schreibformen, Denkmuster und Reaktionen ein. Die „Anekdote“ als literarische Kleinform ist leicht memorier- und darstellbar und deutet in ihrer Beispielhaftigkeit grundlegende Kulturdifferenzen an. Das „Lachen“ ist eine explizite Reaktion auf kulturelle Differenzen und kann mangelndes Verständnis überbrücken wollen und dadurch dem Leser offenlegen. Es kann Situationen sowohl entspannen als auch verschärfen und ist nur schwer zu verorten. Die „verzerrte Botschaft“ meint Nichtverstehen bei der Nachrichtenübermittlung, die durch den Sender, den Empfänger oder eine Veränderung der Botschaft selbst durch kulturelle oder auch physische Entfernung hervorgerufen werden kann. Anhand dieser drei Kategorien soll erleichtert werden, das Nichtverstehen als Analyseinstrument für Kulturkontakte zu nutzen. Dabei sei aber das Konzept des Kulturkontakts zu reflektieren, da gemeinhin Kulturgrenzen dort konstatiert werden, wo Nichtverstehensprozesse in Gang kommen.

Die von Dirk Westerkamp im Eingangsvortrag vorgestellte anoetische Kategorientafel fand ihre Anwendung in MAIKE SCHMIDTs (Kiel) literaturwissenschaftlicher Analyse der Formen des (Nicht-)verstehens in Franz Kafkas „In der Strafkolonie“ (1914/19). Die Erzählung, deren Ende hermeneutisch nicht vollständig auflösbar sei, ermögliche eine Auseinandersetzung mit dem Verstehen und Nichtverstehen sowohl auf inhaltlicher als auch auf ästhetischer Ebene. Dessen verschiedene Formen und Prozesse ließen sich an den einzelnen Protagonisten erkennen. So findet z.B. beim Offizier, der als Vertreter eines veralteten, aber noch dominanten Systems ein Verständnisprivileg innehat, ein Wandel zum Weltunverständnis statt, als sich das Rechtssystem als nicht mehr tragfähig herausstellt. Mit Hilfe der differenzierten Terminologie der anoetischen Kategorientafel konnte gezeigt werden, dass die Erzählung komplexe Verstehens- und vor allem Nichtverstehensprozesse in den Mittelpunkt stellt, wodurch sich eine neue Lesart für Kafkas „In der Strafkolonie“ ergibt. Die in der Forschung häufig angesprochenen Verständnis- bzw. Deutungsprobleme sind nämlich, wie die Analyse gezeigt hat, schon in der Erzählung selbst angelegt.

Die Innsbrucker Philosophin MARIE-LUISA FRICK schloss den Workshop mit einer Darstellung der interkulturellen Verständigungsherausforderungen während der Aushandlung der UN-Menschenrechtskonvention von 1948. Angesichts der unterschiedlichen kulturellen Hintergründe der verantwortlichen Kommissionsmitglieder, die den Text der Konvention innerhalb von zwei Jahren erarbeiteten, stellt sich die Frage, ob es in diesem Kontext einen universellen Konsens überhaupt geben könne. Die weltpolitische Lage setzte jedoch ein „Verstehenmüssen“ für die Kommission voraus, da nach dem Zweiten Weltkrieg das Bewusstsein herrschte, einen weiteren großen Krieg würde die Menschheit nicht mehr überleben, weshalb es diesen nicht zuletzt mit der Idee der Menschenrechte zu verhindern galt. Dennoch habe es Streitpunkte wie z.B. die Frage, ob Menschenrechte angeboren seien oder vom Staat garantiert sein müssten, gegeben. Dabei habe sich insgesamt herauskristallisiert, dass dieses „Verstehenmüssen“ nicht nur Kompromisse, sondern ein wirkliches Aushandeln des eigentlich nicht Verhandelbaren forderte.

Der interdisziplinäre Workshop im Schnittbereich von Philosophie, Ethnologie, Theologie sowie Geschichts- und Literaturwissenschaft hat gezeigt, dass es eine fruchtbare Perspektive sowohl für wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit interkulturellen Begegnungen, aber auch für die eigene Selbstreflexion als Forscher/in ist, dem Nichtverstehen und damit auch dem (eigenen) Kulturbegriff auf den Grund zu gehen. Dabei muss die Frage gestellt werden, was man vom Verstehen erwartet und an welchen Stellen Unschärfen durchaus gewollt sein könnten. Als begriffliche Erweiterungen zu den bereits etablierten Nichtverstehenskonzepten wurden abschließend das „respektvolle Nichtverstehen“, das temporäre „Noch-nicht-verstehen“ sowie die Termini „verstehen müssen“ und „nicht verstehen müssen“ diskutiert. Zahlreiche Diskussionsbeiträge zielten letztlich darauf, dass im Rahmen der Anoetik das Nichtverstehen weniger rational aufgefasst werden könnte. So könnte auch das präreflexive Nichtverstehen als eine Form des nichtsprachlichen, nichtrationalen Nichtverstehens in die Betrachtungen einbezogen werden. Nichtverstehen lässt sich somit als ein eigener Erkenntnismodus begreifen.

Tagungsübersicht

Prozesse und Perspektivität des (Nicht-)Verstehens im Kulturkontakt

Dirk Westerkamp (Kiel): Erläuterungen zur Anoetik

Martin Langner (Krakau): Reflexionen des Fremden – missverständliche Bilder? Von Bildern polnischer Ritter in der Literatur des Hochmittelalters

Nicolai Kölmel (Basel): Annahme verweigert? Ausblenden, umdeuten, anverwandeln, überformen, ignorieren. Vorstellungen der Levante in der Venezianischen Malerei des 15. und 16. Jahrhunderts als Weisen kreativen Nichtverstehens

Sabine Hübner (Oldenburg): Offenes Ende? Zum Umgang mit Erfahrungen des Nicht-Verstehens in missionarischer Berichterstattung

Anne Mariss (Tübingen): Naturaliensammeln und Missverstehen. Interkulturelle Konflikte auf der zweiten Cook-Reise (1772-1775)

Fabian Fechner (Tübingen): Indikatoren für reflektiertes Nichtverstehen im Kulturkontakt. Die Anekdote, das Lachen und die „verzerrte“ Botschaft als Elemente einer Typologie der Unzuverlässigkeit

Maike Schmidt (Kiel): Formen des (Nicht-)Verstehens in Franz Kafkas „In der Strafkolonie“

Marie-Luisa Frick (Innsbruck): Zwischen (Nicht-)Verstehen und Verstehen-Müssen: Die Aushandlungen der UN-Menschenrechtserklärung 1948

Tagungsbericht: Prozesse und Perspektivität des (Nicht-)Verstehens im Kulturkontakt
16.07.2015 – 17.07.2015 Kiel
in: H-Germanistik, 05.10.2015

Text: Zara Zerbe (Institut für Neuere Deutsche Literatur und Medien, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel)





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